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aus dem moabiter kriminalgericht


Im Stundentakt


von Barbara Keller

15. März 2006. AG Tiergarten. Abt. 274 - Schöffengericht
Das New Yorker Nightcourt ist das Schöffengericht des Amtsgerichts Tiergarten gewiss nicht, und es arbeitet auch nicht im nächtlichen Viertelstundentakt wie sein Pendant hinter dem großen Teich. Aber beide Gerichte verhandeln Anklagen ähnlicher Couleur. Anklagen, die mit Verurteilungen zu Haftstrafen, wenn, dann in der Regel unter zwei Jahren enden. - Ein Tag an einem Schöffengericht des Amtsgerichts Tiergarten.

Bei den Prozessachen geht es zumeist um Eskalationen von Bagatellkonflikten auf der Straße und in der Nachbarschaft, um Delikte von auf kleiner Flamme kochenden Kleinkriminellen, um erste Gehversuche von Gewohnheitsstraftätern in spe und im besten Fall um Ausrutscher.

Auf dem Plan des Schöffengerichts der Abteilung 274, dem am 15. März 2006 die Richterin Conrad vorsitzt und dem Staatsanwalt Krause zugeordnet ist, stehen sechs Verhandlungen. Eine gefährliche Körperverletzung, zwei Anklagen wegen Betrugs, ein Verstoß gegen das Waffengesetz, eine Sachbeschädigung und ein Diebstahl mit Waffen.

"Ich war es nicht"

Änderungen sind inklusive. So fällt gleich um 9:00 die Verhandlung gegen Andrey Sch. wegen gefährlicher Körperverletzung ins Wasser, weil Zeugen, ja, und auch eine Dolmetscherin, aber nicht die relevanten Geladenen erschienen sind. Andrey Sch., der selbst etwas desolat wirkt, lässt vorab schon einmal wissen: "Ich war es nicht."

Der Ertrag des Tages, nachdem drei weitere Verfahren platzen, sind schließlich drei Urteile in dem bereits genannten Diebstahl mit Waffen, die Sachbeschädigung und eine Brandstiftung im Vollrausch. In zwei Fällen handelt es sich um ominöse Racheakte, in einem anderen Fall um den traurigen Sinkflug eines russlanddeutschen Mannes, der schon vor einiger Zeit begann.

Arbeitsamt zahlte nicht

Andre F. (28) blickt finster in die Welt. Er scheint von abgrundtiefer Trauer erfüllt, für sein Alter wirkt er viel zu jungenhaft. Seit einem Jahr ist er in Berlin, seit 1995 überhaupt in Deutschland. Er lebt von 670 Euro Hartz IV-Zuwendungen, in denen die Miete schon enthalten ist. Er hat Außenstände beim Bezirksamt und hofft, nach einem Computerlehrgang auf einen Job im Büro, "oder so", sagt er.

Andre F. spricht mit schwerem russischen Akzent, als er erklärt, dass er das Küchenmesser mit der sechs Zentimeter langen Klinge bei seinem Diebstahl bei Woolworth nur deshalb im Ärmel trug, weil es ihm sonst die Tasche zerkratzt hätte.

Geklaut: Portemonnaie, Handy, Rasierklingen

Drei Diebstähle in der Müllerstraße im Wedding legte der gelernte Holzarbeiter und Schlosser im März 2005 hin. Er nimmt ein Portemonnaie für 9,99 € aus der Auslage bei Woolworth, er stielt ein Handy für 49,90 € und später Rasierklingen für 11,45 € bei Karstadt. Warum? "Ich war wirklich verzweifelt", sagt er. Seit Beginn des Jahres blieben die Zahlungen des Arbeitsamtes aus. Wegen eines Computerproblems.

Das kann man sich gut vorstellen. Das stundenlange Warten auf den verräucherten, öden Fluren. Die sprachlichen Missverständnisse mit den überarbeiteten, wenig verständnisvollen Arbeitsamtsmitarbeitern. - Aber warum ein Handy, Rasierklingen, eine Geldbörse?

Kein "allerallerallerletztes Mal"

Richterin Conrad sagt dann auch: "Ich glaube das nicht. Sie hätten die Sachen sicher auch so entwendet." Und sie weiß: Andre F. ist nicht einschlägig aber zweifach vorbestraft. Wegen gefährlicher Körperverletzung erhielt er eine zwölfmonatige Haftstrafe auf Bewährung, ein Jahr später noch einmal für dasselbe Delikt dasselbe Strafmaß. Die Diebstähle beging Andre F. innerhalb der letzten Bewährungszeit.

Trotzdem sein Rechtsanwalt "ein allerallerallerletztes Mal" um eine Bewährungsstrafe bittet, "mehr als darum bitten kann ich nicht", muss Andre F. jetzt für ein Jahr unwiderruflich hinter Gitter. Eine positive Sozialprognose sehen weder Staatsanwalt noch Richterin. Andre F. schleicht schwer und traurig von dannen.

Tierquäler zerkratzte Taxi

Voller Einsicht und ganz geständig hingegen ist Thomas B. Ein stämmiger, cholerisch wirkender Mann mittleren Alters mit Irokesenhaarschnitt. Seit einer Woche ist er arbeitslos und lebt von seinen Ersparnissen, wie er sagt. Vorher war er Taxifahrer. Ein Rückenleiden hat ihn ausgeknockt.

Thomas B. zerkratzte seinem ehemaligen Kollegen im Juli 2005 am Innsbrucker Platz gleich zweimal die Beifahrertür des Autos mit einem Schraubenschlüssel. Eine wütende Racheaktion, von der Thomas B. sagt: "Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht darüber reden."

"... bitte, noch mal Milde walten zu lassen"

Ein Jahr zuvor war Thomas B. wegen Tiermisshandlung zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er macht es kurz: Er habe sich entschuldigt, der Sachschaden sei beglichen, die Entschuldigung wurde angenommen. "Ich bitte, noch mal Milde walten zu lassen, sonst kann ich mein Leben wegschmeißen", sagt er. Mit einer Geldstrafe von 1.350 € macht Thomas B. dann sichtlich seinen Frieden und humpelt aus dem Gerichtssaal.

Weniger glimpflich geht eine mehrtätige Verhandlung dann aber für Herrn B. aus, der im November 2005 im Vollrausch, drei Promille im Blut, seine Wohnung anzündete aus Wut darüber, dass der Sicherungskasten nicht funktionierte. Bis in die dritte Etage brannte das Mietshaus in der Nazarethkirchstraße im Wedding.

Wohnung im Vollrausch angesteckt

Ein Mieter konnte sich nur über eine abenteuerliche Kletteraktion an der Fassade entlang retten. Es war ein Wunder, dass alle Mieter heil mit dem Leben davonkamen. Seit November 2005 sitzt B. in Untersuchungshaft.

Herr B. ist ein drahtig kantiger Typ, schwarzer Rolli, kariertes Hemd und Brillengläser dick wie der Boden eines Glasaschenbechers. Nicht das erste Mal muss er sich vor Gericht verantworten. Seit Mitte der 80er Jahre begleiten seine Saufexzesse Verurteilungen wegen Delikten im Vollrausch. Aber auch Verurteilungen wegen Beleidigung, Diebstahl, Hausfriedensbruch und Erschleichung von Leistungen. Bis Ende der 80er Jahre am Amtsgericht Münster, dann am Amtsgericht Tiergarten.

"Da muss jemand nachgeholfen haben!"

Dass die Mieter des Hauses in der Nazarethkirchstraße, das zudem noch mit Gas versorgt wird, nicht gerade glücklich waren über ihren trunksüchtigen Nachbarn im Parterre, lässt sich leicht denken. B., der aus seinem unsoliden Leben gern ein öffentliches machte, indem er seine Wohnungstür offen stehen ließ, bastelt hieraus eine Verschwörungstheorie.

Das Ganze sei ein Unfall. Er habe nur sein Feuerzeug nachfüllen wollen und das danebengegangene Benzin 'abfackeln' wollen. Er glaubt es einfach nicht, dass sich das Feuer so schnell ausbreitete: "Das kann ich mir nicht vorstellen. Da hat doch jemand nachgeholfen", schimpft er ungefragt von der Anklagebank herüber. Das Urteil: eine Haftstrafe von zwei Jahren und einem Monat.

Das auch noch

Es ist kurz nach Drei als das letzte Urteil an diesem Tag von diesem Gericht gesprochen ist. Auch die Hälfte einer Schulklasse der Bertolt-Brecht-Schule (Mitte) in Begleitung ihres desillusionierten Sozialarbeiters hat sich längst getrollt.

Die Enttäuschung und Langeweile war den Jugendlichen am Gesicht abzulesen. Ganz anders als im Fernsehen, unspektakulär, langwierig, wenig Information. Die Vordrucke mit den Einheitsfragen, die die Schüler bei sich trugen: wer war weswegen angeklagt und erhielt warum welches Urteil, na ja. Das auch noch.



NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




gitter

angeklagt 1
Der erste Angeklagte des Tages: Andrey Sch., angeklagt der gefährlichen Körperverletzung, sagt: "Ich war es nicht."

angeklagt 2
Andre F., seit 1995 in Deutschland und seit einem Jahr in Berlin, ist in der hiesigen Gesellschaft offenbar nie angekommen. Nach zwei Bewährungsstrafen wegen schwerer Körperverletzung schiebt er während der Bewährung drei Bagatelldiebstähle, davon einer bewaffnet, nach und muss nun für ein Jahr hinter Gitter.

Zeugin
Anne-Luise M. (62), Pflegerin bei der ARWO, entkam mit knapper Not dem in Flammen stehenden Mietshaus. Sie wohnte über ihrem Nachbarn B., der seine Wohnung im Vollrausch ansteckte.
Schüler der Bertolt Brecht Schule
Schülerinnen und Schüler der Bertolt-Brecht-Schule (Mitte), die einen Vormittag lang das Prozessgeschehen verfolgten.

zum Gerichtssaal
Nach Drei: leerer Saal, leerer Flur.

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