Atemberaubende Sanduhr-Silhouette,
sparsame Frisur, ein freches, kleines Hütchen
mit Gesichtsschleier auf dem
Kopf - so zeigte sich die moderne Frau der Weltstadt
Berlin um die Jahrhundertwende (1900). Während es
die Gründer des Kaiserreichs in engen,
schwarzen Beinkleidern krachen lassen, sich im
Rausch bankrott investieren, fahren Frauen Rad, wandern in
die USA aus, rauchen, organisieren sich in Frauenvereinen,
fordern Wahlrecht. Die ersten höheren Töchter schummeln
sich in den Universitätsbetrieb.
Unter jungen Frauen des ärmeren Berlin dieser Zeit
etabliert sich dagegen als pubertärer Protest weit
weniger mondän das 'Barrison-Kostüm'. Die incroyable
'Cindy aus Marzahn', die es sich leisten kann und will,
trägt ein korsett- und knöchelfreies Kleid mit
Ausschnitt und Rüschen sowie eine Art Eierwämer mit
Bändchen auf dem lockigen Kopf.
Sie wohnt nahe des Alexanderplatzes und träumt ganz
sicher von einer Karte für die 'Barrison-Sisters'.
Die 'Fünf bösesten Mädchen der Welt' gastieren 1895 für
acht Monate im 'Wintergarten' des Hotels Central an der
Friedrichstraße. Die aus Dänemark stammenden, in den USA
lebenden Varieté-Pionierinnen sind berühmt für ihre
'Pussy'-Performance. Mit "Do You Want To See ..." lüpfen
die Damen darin Stück um Stück die Rocksäume ihrer
Kleider vor dem Publikum, um final - lebende Kätzchen zu
enthüllen, die in ihren selbst genähten Unterkleidern
stecken. Eine Karte für die Barrison-Five im
Wintergarten dürfte für die Putzfrauentöchter ungefähr
so erschwinglich gewesen sein, wie heute ein
Santana-Konzert in der O2-World für einen (redlichen)
Hartz 4 Empfänger.
Doch mit den nächtlichen Sausen bei Lehmanns, wie
bereits erwähnt, soll es laut Anklage nun vorbei sein.
Dafür haben Nachbarn und insbesondere 'eine Nachbarin'
gesorgt. Das Berliner Gericht wirft
Frau Lehmann im Mai des Jahres 1895 vor, die Freier
ihrer Töchter in ihrer Wohnung geduldet zu haben. Und
das, obwohl sie wusste, dass ihre älteste Tochter unter
Polizeiaufsicht stand.
Die Details dieser 'Orgien' mit Trinkgelage bleiben
unbekannt. Denn der Prozess findet unter Ausschluss der
Öffentlichkeit statt. Der Urteilsverkündung entnimmt der
nun wieder beiwohnende Zuhörer, dass Frau Lehmann
umsonst leugnete und das Gericht von ihrer Schuld
überzeugt war. Die Angeklagte soll, so der Vorsitzende
Richter, sogar selbst an diesen nächtlichen Partys
beteiligt gewesen sein. Ein Jahr und sechs Monate
Zuchthaus verhängte die Dritte Strafkammer gegen die
überführte 'Zuhälterin', dazu fünf Jahre Ehrverlust.
Nun brachen alle vier Frauen nach der Urteilsverkündung
lautstark in Tränen und Wehgeschrei aus und zwei
Schwestern gingen mit Schirm und Fäusten auf die
Hauptbelastungszeugin los. Ihr Verteidiger Dr. Richard
Coßmann hielt nur mit Mühe eine seiner Mandantinnen
zurück. "Du Lügnerin!", hallte diese blindwütig durch
den Saal, während ihre Schwester auf die 'Denunziantin'
mit dem Schirm eindrosch.
Dieser Vorfall brachte die Staatsanwaltschaft noch
einmal auf den Plan. Wegen 'grober Ungebühr vor Gericht'
beantragte sie für beide Frauen je drei Tage
Haft. Für eine der Beiden räumte der Kläger
mildernd 'Erregung' ein, die andere wurde stehenden
Fußes abgeführt.
Dies ermöglichte dem verurteilten 'Barrison-Double'
noch einen letzten Auftritt. Von der Wache nur
halbherzig eskortiert, riss die Verurteilte sich
wiederholt los, um auf die Zeugin einzuschlagen. Da eine
Verurteilung wegen 'grober Ungebühr' bereits erfolgt
war, sah die junge Frau nun obendrein einem Verfahren
wegen Körperverletzung entgegen.
Wer übrigens glaubt, dass die 'Barrison-Five' heute
keine Schlagzeile mehr wert sind, irrt. Als Ogden's Own
Distillery (USA, Utah) 2012 'Five Wives Vodka' (100%
Gluten Free, ca. 17 Euro) auf den Markt brachte, verbot der Staat Idaho dessen Vertrieb.
Grund: das Etikett zeigt, offenbar volksschädlich, ein
Foto der Barrisons im Finale ihrer 'Pussy'-Nummer. -
Fortschritt, so muss gefolgert werden, ist für manche
einfach nur das banale Dahinplätschern von Zeit.
*Deutsches Reichsgesetzblatt Band
1871, Nr. 24, Seite 127 - 205
Fotos:
Die Barrison-Sister
Der Wintergarten des Hotel Central am
Bahnhof Friedrichstraße, Hermann Rueckwardt
1881
Lona Barrison, 1903, Fotograf unbekannt (mit
Klick auf das Bild: vier der Barrison Sisters in "Mr.
Cupid", Falk, Photo, N.Y. Photogravure Co.)
Five
Wive Vodka
(Beitrag u .a. nach einem Artikel aus der
Berliner Gerichtszeitung 1895)