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krimirezensionen ab 2003
Christian v. Ditfurth
"Mann ohne Makel"
Kiepenheuer & Witsch März 2004
ISBN: 3-462-03389-1
7,90 €
"Wir waren einfache Menschen ... "
von Barbara Keller
Als Stachelmann im verregneten Sommer 2001 auf dem S-Bahnhof Friedrichstraße in Berlin von einem braungebrannten weißhaarigen Herrn auf die Gleise gestoßen wird, steckt er bereits mittendrin. Er - ein Lübecker Historiker - beschäftigt an der Hamburger Uni, behaftetet mit Arthritis und wirksamen Selbstzweifeln. Verwickelt in die Rache eines jüdischen Greises und den Querelen einer immer noch virilen Hamburger SS-Mafia.
Leopold Kohn ist ein alter, weißhaariger Mann, Jude. Der einzige Überlebende seiner Familie, einer der wenigen Hamburger überlebenden Juden. Nach dem Krieg kehrt er aus England nach Hamburg zurück. In dem Haus, das seiner Familie gehörte, wohnt jetzt der steinreiche Immobilienmakler Maximilian Holler. Ein Mäzen, Wohltäter, Liebling des öffentlichen Lebens. Einst hatte der alte Holler - Mitglied der "Hamburger SS-Mafia" - gemeinsam mit anderen Kameraden und Beziehungen zum Finanzamt jüdisches Vermögen am Fiskus vorbei in eigenen Besitz gebracht. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur bleibt die Besetzung im Finanzamt dieselbe. Unterlagen verschwinden. Anträge jüdischer Rückkehrer werden abschlägig beschieden. - Die Hamburger Maklerwelt besteht aus Kriegsgewinnlern der ehemaligen Waffen-SS.
Kohn weiß, er hat nicht mehr lange zu leben. Diagnose: Krebs. Im Keller seines Freundes Goldblum lagern Sprengstoff und Zyankali. Das Ruhekissen seines Lebens lautet: "wenn ich will, dann jage ich eins von diesen Schweinen einfach in die Luft." Goldblum reicht die potenzielle Macht. Kohn aber spürt jenen brennenden Hass, der sich jetzt, da er nichts mehr zu verlieren hat, in die Tat ummünzen will.
Hamburg im verregneten Jahr 2001. Der Historiker Stachelmann (41) pendelt zwischen seinem Wohnsitz Lübeck und der Hamburger Uni, an der er als Dozent arbeitet. Stachelmann leidet unter einem umfänglichen Komplex am Selbstbewusstsein. Seine Habilitationsschrift zur "Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald" liegt auf Eis, seine Arthritis macht ihm zu schaffen und eine Weiterentwicklung aus dem Stande des Singlelebens scheint nicht in Sicht.
Da trifft Stachelmann seinen alten Freund Oskar Winter, "Ossi", wieder. Jetzt Kriminalkommissar bei der Hamburger Kripo. Gerade erschüttert die Hamburger Öffentlichkeit die scheinbar planhaft inszenierten Morde an der Familie Holler. Der Familie des prominenten Immobilienkönigs. Bei einem Bier unterhalten sich die beiden Ex-Kommilitonen über den Fall, den "Ossi" bearbeitet. Bald wird es auch Stachelmanns Fall sein. So sehr, dass es auch um sein Leib und Leben geht.
Stachelmann mutiert zum "investigativen Historiker", der den Fall schließlich allein lösen muss. Die schöne Anne Derling, "Sonne des Instituts" und Assistentin des Chefs, steht ihm zur Seite. Ist sie in ihn verliebt, will sie - subtil - seine wissenschaftlichen Unterlagen plündern oder gehört gar sie zum Syndikat?
"Mann ohne Makel" erschien das erste Mal im August 2002. Jetzt ist das Buch bereits in der vierten Auflage, nun broschiert. Kein Wunder. Christian v. Ditfurth versteht es, seine historischen Erkenntnisse populär ins Genre Roman einfließen zu lassen. Schon "Die Mauer steht am Rhein. Deutschland nach dem Sieg des Sozialismus" (1999) und "Der 21. Juli" (2000) sorgten für Trubel in den Medien und Umsatz in den Buchläden.
Während die "Mauer steht am Rhein" das "Was-Wäre-Wenn" durchspekuliert, hätte der Sozialismus den Kapitalismus überdauert - beschäftigt sich "Der 21. Juli" mit dem Fall, das Hitlerattentat wäre gelungen und Deutschland die europäische Supermacht.
In seinem letzten Roman, "Der Consul" (2003), spielt von Ditfurth die Variante durch, der "Führer" in spe - Adolf Hitler - wäre im November 1932 einem Mord zum Opfer gefallen. Wie hätte der Verlauf der Geschichte dann ausgesehen? Hätte es ein "Drittes Reich" ohne Alouis Schickelgruber gegeben?
Christian von Ditfurth (*1953, Historiker, Verlagslektor, Journalist) erlaubt sich in seinen frechen Romanen das, was einem strengen Historiker am Fach gewöhnlich nicht zukommt: der Fantasie die Zügel zu geben, zu spekulieren. Und: er leistet sich einen investigativen Historiker.
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