In seinen Rügen weist der BGH das Landgericht auf ein mögliches Verteidigungsszenario aus Sicht des Angeklagten hin, kritisiert die unklare Urteilsbegründung zum bedingten Tötungsvorsatz in Bezug auf eine mögliche Affekthandlung, stellt die Zielgerichtetheit des zur Disposition stehenden ersten Messerstichs in Frage und moniert den unklaren Bewegungsablauf des Gerangels der Kontrahenten. Soweit.
Am 24.10.2006 beginnt die zweite Verhandlung zur Sache. Wieder sorgt Rechtsanwalt Nicolas Becker für eine einleitende, 'spektakuläre' Verzögerung. Hatte der Berliner Rechtsanwalt seinerzeit, am 3.06.2005, die Strafkammer wegen angeblich unzulässig geänderter Zusammensetzung abgelehnt, möchte er dieses Mal die Verlesung des kassierten Urteils vom 4.07.05 verhindern.
Nicolas Becker, der, wie er wissen lässt, mit einer Amerikanerin verheiratet ist, hält seinen Mandanten für unschuldig. Mit der bloßen Bitte um Minderung der Musiklautstärke sei der Mann aus Atlanta (Georgia) in aller Höflichkeit an seinen Nachbarn herangetreten, um urplötzlich und völlig unerwartet geballter Tätlichkeit zum Opfer zu fallen. In seinem Plädoyer am 4. Juli 2005 sagt Nicolas Becker: "In dubio pro reo! Wir müssen es dem Mann aus Amerika beweisen, dass die deutsche Rechtssprechung sich an diesen Rechtsgrundsatz hält" und fordert einen Freispruch.
Dem Bild des freundlich arglosen Akademikers aus den USA, Dr. Jason M., stehen allerdings einige Argumente entgegen. So ergaben seinerzeit Zeugenaussagen, dass der Stein des Anstoßes, laute Partymusik aus dem Obergeschoss, allein Dr. Jason M. wahrnahm. Tatsächlich wach wurden die Nachbarn von dem rücksichtslosen Klingel- und Klopfterror des heute Angeklagten.
Nur leicht verletzt habe er seinen Kontrahenten geglaubt, behauptet Dr. Jason M. Zurück in seiner Wohnung und in Sicherheit ruft der sich als Opfer verstehende Dr. Jason M. allerdings nicht, wie vielleicht zu erwarten, die Polizei. Den Hilferufen von Ralph P. auf der Treppe, "Hilfe, ich verblute!", schenkte er keinen Glauben, versorgte stattdessen seine eigene Blessur mit einem Pflaster und wusch sich erst einmal die Hände.
Dem blutüberströmten, um Hilfe bittenden Mann knallte Dr. Jason M. die Tür vor der Nase zu. Sehen konnte er ja nichts, sagt er. Mit 4,5 Dioptrien und bei der Dunkelheit. Die dann allerdings doch einigen Beobachtungen, darunter, wie er berichtet, einem Blickkontakt nicht im Weg stand. Dr. Jason M. am 24.10.2006 vor Gericht: "Er bemerkte, dass ich etwas in der Hand habe und sah mich kurz an."
Den eintreffenden Polizeibeamten präsentierte sich Dr. Jason M. mit erhobenen Händen. Das Springmesser warf er zuvor rasch in die Küche, entdeckt behauptete er , es sei nicht seines, um schließlich in die Version zu münden, Ralph P. habe ihn mit dem Messer angegriffen. In der Hauptverhandlung am 3.06.05 erklärt Dr. Jason M. sein Verhalten so: "Ich dachte, es wird mir niemand glauben, es sei aus Selbstverteidigung gewesen."
Dass er in einer gewissen Ärger- und Gewalterwartung lebte, bestätigt Dr. Jason M. vor Gericht am 24.10.2006 gleich zweimal. So habe ihn im Jahre 2004 eine tätliche Auseinandersetzung, in die er übrigens nicht selbst verwickelt war, zu dem sinngemäßen Gedanken veranlasst: Mist, und ich habe mein Messer nicht dabei. Ein Telefonanruf bei der Polizei wäre ebenfalls ein möglicher Gedanke gewesen.
Auch durch folgende, nebenher gesagte Bemerkung von Dr. Jason M. am jetzigen Verhandlungstag erhält das schöne Opferbild Risse: "Wenn ich ihn hätte umbringen wollen, dann könnte heute hier nur noch einer befragt werden." Auf die ungläubige Frage des Staatsanwaltes Torsten Neudeck nach der Bedeutung dieses Satzes, bestätigt Dr. Jason M. Ja, dann wäre Ralph P. wohl tot.
Das alles, und nicht nur das, lässt den von Rechtsanwalt Becker unglücklich beschworenen Fetisch Deutsch-Amerikanischer Freundschaft aus der guten alten Luftbrückenzeit deplatziert erscheinen.
Vielleicht kommen wir mit dem Bild eines leicht hypochondrischen Mannes, erfüllt vom Phantom allgegenwärtiger Gewalt, seit 2000 mit einem rasierklingenscharfen Springmesser versorgt, dem wahren Dr. Jason M., Stand 2004, doch erheblich näher: reif für eine folgenreiche Eskalation.
Auch Dr. Jason M. sieht es und sich selbst dagegen anders: er handelte, beteuert er noch immer, in blanker Notwehr. Vielleicht folgerichtig entzog er sich im Sommer dieses Jahres dem Haftantritt gleich zweimal durch Flucht. Seit dem 23.08.2006 sitzt Dr. Jason M. in Haft.
Während Staatsanwalt Torsten Neudeck zuversichtlich ist, dass die 32. Strafkammer das Urteil aus dem Vorjahr bestätigt, sieht Rechtsanwalt Nicolas Becker Optionen auf eine Verurteilung wegen Gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB), die eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren vorsieht. Auch die Hoffnung auf einen Freispruch hat Nicolas Becker für seinen Mandanten noch nicht aufgegeben. - Wohl dem, der einen guten Anwalt hat!
Urteil vom 9.11.2006:
Das Gericht bestätigte das Urteil vom 4. Juli 2005: Haftstrafe von 46 Monaten.
Hier auch der Beschluss des Bundesgerichtshofs (22.02.06), mit dem das Urteil vom 4.07.2005 ursprünglich aufgehoben war.