Freitag, 16. Juni 2006, mittags gegen 12:00. Sonnenallee,
Ecke Roseggerstraße. Es ist ein sonniger, fast
wolkenloser Tag. Taxifahrer Hamid Ö. (38) steht an
einem Imbiss gleich neben dem Taxistand und klönt mit
den Kollegen. Die Augen des schlanken, ganz in Schwarz
gekleideten Mannes mit dem schütteren Haar gleiten
absichtslos über die Umgebung.
Am nahe gelegenen Fußgängerweg sieht er vier
Personen auf die Ampelschaltung warten. Drei ältere
Damen und ein Herrn mittleren Alters mit Fahrrad.
Brigitte S. (53), die als Ein-Euro-Joberin Ausfahrten
mit der Rollstuhlfahrerin Helga R. (78) unternimmt,
kommt gerade von einem Einkaufsbummel bei C & A.
Jetzt warten sie geduldig auf das Ampelsignal.
Warten auf Grün
Neben ihnen steht, etwas bullig, gemütlich und mit
praktischem Bürstenschnitt, Neidhardt K. (49). Auch
der heutige Callcenteragent arbeitet damals als
Ein-Euro-Jober und 'klappert', wie er sagt, zum Zwecke
von Datenerhebungen die gesamte Sonnenallee, darunter
auch die gegenüberliegende Roseggerapotheke, ab.
Neidhardt K., der gewöhnlich die Kreuzung auf dem
Rad fahrend überquert, schiebt heute.
Er raucht, hängt mit Bauch und Schulter über
den Fahrradlenker und zieht, in die Sonne blinzelnd,
genießerisch den Rauch seiner Zigarette ein. An
dem 50 Meter entfernten, parallel die Sonnenallee
querenden Fußweg wartet dagegen Selma K. (47). Die
türkisch gebürtige Hauskrankenpflegerin, eine
kleine, gesprächige Frau mit wirrem, aufgestecktem
Haar, hat es eilig. Heute ist ihr Geburtstag. In
Gedanken geht sie froh gestimmt noch einmal alle zu
erledigen Posten durch.
Auf dem Balkon, im vierten Stock der Sonnenallee 44
steht der Grafiker Alessandro P. (21). Der
schmächtige Jeansträger hat sich mit Kaffee
und einer Zigarette zu einer Pause auf den Balkon
gestellt. Er beobachtet, bedächtig den heißen
Kaffee schlürfend, das rege Treiben auf der gut
befahrenen Sonnenallee.
Auch Gitti S. (70), der nur noch wenige Minuten zu
leben bleiben, steht - auf das Umspringen der Ampel
wartend - neben den Damen mit dem Rollstuhl und
Neidhardt K. Sie war eben mal schnell über die
Sonnenallee Lebensmittel von einem Bekannten abholen.
Keine der Personen ahnt, welche Tragödie sich
innerhalb weniger Augenblicke hier abspielen wird, in
welche sie alle - mehr oder weniger - miteinbezogen
werden.
Kokain, Heroin, Marihuana,
Methadon...
Marcus G. sitzt derweil vollgedröhnt mit Drogen in
seinem Daimler und fährt mit überhöhter
Geschwindigkeit die Sonnenallee in südliche
Richtung. Er ist gelernter Tischler. Der schwer
drogenabhängige junge Mann lebt seit Kurzem von
Arbeitslosengeld II. Er nimmt an einem Methadonprogramm
teil. Nebenher wirft Marcus G. jedoch offenbar jede
Droge ein, derer er habhaft wird.
Auch am frühen Abend des 15. Juni und die folgende
Nacht vom Donnerstag auf Freitag hat er sich mit einem
Bekannten in dessen Weddinger Wohnung getroffen, um
Drogen zu konsumieren. Haschisch, Kokain, Marihuana,
Herointabletten - das ganze Programm. Morgens
zurück in seiner Wohnung klingelt das Telefon. Der
Vater kündigt seinen Besuch an.
Marcus G. beschließt, schnell noch etwas Geld am
Hallesches Tor zu ziehen, um damit Heroin für den
Abend zu kaufen. Und wieder nutzt Marcus G., mehrfach
wegen Betäubungsmittelmissbrauchs und Fahren ohne
Führerscheins vorbestraft, seinen leicht
'aufgetunten' Daimler. Auf dem Rückweg fährt
Marcus G. jedoch mit deutlich überhöhter
Geschwindigkeit auf einen anderen Wagen auf und
verursacht einen Sachschaden.
Die Folgen fürchtend, seine letzte
einschlägige Verurteilung lautete 'sechs Monate
Haft auf Bewährung', tritt Marcus G. auf das
Gaspedal und türmt. An der Kreuzung Sonnenallee,
Roseggerstraße rast der Amokfahrer bei Rot mit
quietschenden Reifen in eine Fußgängergruppe.
Brigitte S. wird zu Boden gerissen, eine Person fliegt
durch die Luft, der Rollstuhl rotiert samt Helga R. mit
geborstenen Rädern. Als der Unglücksfahrer
vorbei ist, bleiben auf dem
Fußgängerüberweg ein verwaister Schuh
und ein Schlüsselbund zurück.
Ein Schuh und ein
Schlüsselbund
Taxifahrer Hamid Ö. sieht, wie es Gitti S. auf die
Kühlerhaube schleudert. Mit Entsetzen beobachtet
er, wie die alte Dame, sich verzweifelt mühend, von
der Kühlerhaube herunterzukommen, bei einem kurzem
Bremsmanöver vor das Auto rollt und zwischen
Spoiler und Asphalt gerät.
Als Marcus G. in diesem Moment beschleunigt, springt
Hamid Ö. mit erhobenen Armen vor den Daimler,
stützt sich auf den Kühler und schreit:
"Bleiben Sie stehen! Unter Ihrem Wagen liegt jemand."
Ein kurzer Augencheck der Männer, ein vager Blick
des Rasers nach links, dann geht die irre Fahrt weiter.
Vergeblich versucht Hamid Ö., der sich mit einem
schnellen Sprung beiseite rettet, die Beifahrertür
zu öffnen. Sonnenallee, Treptower Straße,
Stuttgarter Straße - fast 500 Meter schleift
Amokfahrer Marcus G. die alte Dame mit sich. Als er den
Daimler in der Stuttgarter Straße auf Höhe
der Nummer Zwölf endlich stehen lässt, um zu
Fuß weiter zu flüchten, rollt Gitti S. schwer
verletzt unter dem Wagen hervor. Wenige Augenblicke
später kann der Notarzt nur noch ihren Tod
bestätigen. Innere und Kopfverletzungen, zahllose
Knochenbrüche, darunter des Torax - die
Verletzungen sind zu schwer.
Schnell hat die Polizei den Fahrzeuginhaber des
Unfallfahrzeugs ausgemacht und eine bundesweite Fahndung
ausgeschrieben. Der Verhaftung in seiner Wohnung
entzieht sich Marcus G. jedoch zunächst durch
Flucht. Zwei Tage später stellt und
überwältigt ihn die Polizei. Marcus G.
behauptet, von nichts zu wissen. Sein Wagen befände
sich in der Werkstatt.
"Ich finde das krass..."
Ein knappes Jahr später, am 30. März 2007,
muss sich Marcus G. (unter anderem) wegen
Mordes vor der 22. Großen Strafkammer des Moabiter
Kriminalgerichts verantworten. Zu erleben ist ein
blasser junger Mann mit teigiger Gesichtsfarbe.
Über seinen Rechtsanwalt Detlef Kolloge gibt er
zu, was sich ohnehin nicht lohnte zu leugnen: ja, er sei
der Fahrer des Unfallwagens. Ansonsten keine weiteren
Erklärungen. Vorerst aber noch so viel: Marcus G.
bedauert seine Tat zutiefst. Das Opfer, so sagt er,
hätte ja auch sein Vater oder seine Mutter sein
können. Und wörtlich: "Ich finde das krass,
was passiert ist."
Wie Nebenkläger Marcus und Manuela S., die Kinder
von Gitti S., das schreckliche Ende ihrer Mutter
empfinden, kann wohl kaum ermessen werden. - Jetzt
arbeitet Rechtsanwalt Detlef Kolloge daran, den Mordvorwurf
von seinem Mandanten zu nehmen und eine verminderte
Schuldfähigkeit nach § 21 StGB für ihn
geltend zu machen. - Wie das Gericht unter Vorsitz von
Richter Peter Faust entscheidet, bleibt abzuwarten.
Bisher sind zwei weitere Termine vorgesehen Montag, der
2.04.07, 9:00, Saal 220 und Montag, der 16.04.07, 9:00,
Saal 501.
Urteil
vom 11.05.07:
Das Gericht wertete den Tathergang als
Körperverletzung mit Todesfolge
und verhängte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren.
Zugleich ordnete die 22. Strafkammer die Unterbringung des
drogenabhängigen Angeklagten in einer
Entziehungsanstalt an sowie eine lebenslange Sperrfrist
zur Erteilung einer Fahrerlaubnis.