Nicole Z. (18) ist eine kleine,
stämmige Frau, derzeit Tischlerlehrling. Sie
trägt schwarze, blondgesträhnte, kurze Haare,
ein weißes Kapuzenshirt mit geometrischem Muster in
den Farben grün, grau, schwarz. Eine Jeans,
Turnschuhe, weiße Jacke. Ihr Gesichtsausdruck wirkt
beteiligungslos. Vor dem Richter ist sie heute eine
wichtige Zeugin. Doch Nicole Z. kann sich an so gut wie
nichts erinnern.
Dabei hielt auch Nicole Z. sich am 1. Dezember 2007 im
Hip-Hop-Bereich des DIX auf. Eines Disko-Tempels in
Weißensee mit mehreren Dancefloors, der auch
mehrtägig öffnet. Genau zwei, drei Meter neben
der Schlägerei tanzte sie, gleich neben der Bar. Aber
Prügeleien sind, so sagt Nicole Z., keine Seltenheit
im DIX. Deshalb guckte sie auch nicht so genau hin. Sie
erklärt: "Weil ich ja eigentlich tanzen wollte."
Tanzen, mehr nicht
Während sich also in greifbarer Nähe
Hitzköpfe wegen eines Mädchens an die Ohren
gehen, andere sich erregt einmischen, ertanzt sich Nicole
Z. nach einem unerfreulichen Ellenbogencheck mit einem der
Raufenden einen Sicherheitsabstand. Die Prügelei
verlagert sich in Richtung Ausgang, wo sie
schließlich durch Türsteher beendet wird. Dann
sieht Nicole Z. einen der Raufbolde weglaufen. Der andere,
der eben noch auf dem Boden lag, tritt neben sie. "Er sah
sehr blutig aus", berichtet sie.
Was Nicole Z. und Jakob M., so heißt der junge Mann,
in diesem Moment noch nicht wissen: Jakob M. ist
lebensgefährlich verletzt, verursacht durch
Messerstiche seines Kontrahenten. Von den zehn
Messerstichen, ein bis anderthalb Zentimeter breit und bis
zu 20 Zentimeter tief, trafen mindestens zwei Stiche auch
die Lunge und das Herz. Nur eine Notoperation kann dem
jungen Mann das Leben retten. Von seinem Bruder Victor und
einem Freund gestützt schafft Jakob M. es gerade noch
eine Etage tiefer. Dort, im Techno-Bereich, bricht er
zusammen.
Eineinhalb Zentimeter breit, 20
tief
Was genau sich in den frühen Morgenstunden des 1.
Dezember 2007 in der Weißenseer Diskothek DIX
abspielte, ist ein halbes Jahr später Gegenstand
einer Hauptverhandlung am Berliner Landgericht. Angeklagt
sind der bereits einschlägig ins Blickfeld der
Ermittler getretene, seinerzeit beruflich ziel- und
arbeitslose Franz F. sowie dessen nicht vorbestrafter
Bekannter, Berufsvorbereitungsschüler Marten S. Beide
aus Pankow. Die jungen Männer konnten vier Tage nach
der Tat verhaftet werden. Franz F. befand sich gerade mit
seiner Mutter auf dem Weg zu einem Rechtsanwalt.
Die Vorgeschichte. Am Freitag des 30. November 2007
treffen sich die Kumpels wie so oft bei Franz. Denn dieser
hat bereits eine eigene Wohnung, in Pankow. Franz, der
beruflich derzeit nicht disponiert ist und gelegentlich
bei seinem Onkel, einem Fußbodenleger aushilft, hat
an diesem Freitag nicht viel vollbracht. Aber er kauft
ein, denn seine Freundin Julia will heute bei ihm
übernachten.
Nach dem 'Vorglühen' der
'Fun'
Mit Julia ist vereinbart, dass sie mit einer Freundin
tanzen geht und Franz sich einen schönen Herrenabend
mit seinen Kumpels macht. Die Jungs trinken an diesem
Abend Cola mit Wodka. Circa ein Fläschchen rinnt
jedem von ihnen durch die Kehle. Als Julia dann
sternhagelvoll bei ihm auftaucht, gibt es Streit,
Tränen und nach der Versöhnung launig den
finalen Entschluss, noch im DIX einen draufzumachen.
Franz gibt seinem Dispo mit einer Abhebung von 200 Euro
den Gnadenstoß und ab geht es mit dem Taxi ins DIX.
Dort treffen sie neben Freund Marten noch andere Bekannte.
Marten hat sich, wie seine Freunde, in Schale geworfen:
gelbes T-Shirt, orange Nikes, schwarze Cargo-Jeans und,
die Krönung - eine Königskette aus Silber. Daran
werden sich Zeugen später erinnern.
Als Julia mit ihrer Freundin tanzt, gesellen sich zwei
gebürtige Russlanddeutsche zu ihnen. Man tanzt,
schreit sich Belanglosigkeiten ins Ohr. Die Musik ist laut
im Schummerlicht des Saales. Julia trinkt von dem ihr
angebotenen Bier. Doch dann tritt Marten, der sich zuvor
schon mit Christian wegen einer Exfreundin raufte, auf den
Plan. Er macht die Fremden darauf aufmerksam, dass Julia
bereits an seinen Kumpel vergeben ist.
Spaß an der Hysterie
Franz, der seit anderthalb Monaten mit Julia zusammen ist
und sich zu verloben wünscht, übernimmt selbst
die Regie. Von ihm, dem schmächtigen Milchgesicht,
heißt es, dass er schnell in Rage kommt und dann
selbst Mädchen keine Gnade fänden. Er
reglementiert Julia. Sie soll aufhören, das Bier
ihrer Tanzpartner zu trinken.
Warum Julia nun daraufhin Jakob M. das Bier ins Gesicht
schüttet, weiß die junge Frau sicher bereits
damals nicht. Aber als Reaktion setzt es eine Beleidigung,
in der das Wort "Fotze" die tragende Rolle spielt. Und
schon ist die Schlägerei im Gange. Allerdings hat
Franz - als stärkeres Argument - das Klappmesser
dabei, das ihm seine Mutter kürzlich schenkte. Franz
liebt alte Sachen, hat das antike Stück gereinigt und
geölt.
Nun rammt er es Jakob M. mehrmals in den Oberkörper,
genau: zehn Mal. Und Freund Marten soll, bevor ihn der zu
Hilfe geeilte Juri W. (24) beiseite stößt,
bereits zu einem Tritt gegen den am Boden Liegenden
ausgeholt haben.
Am Tag der Hauptverhandlung ist von Seiten Franz F. nicht
viel Reue zu erleben. Auf "abartige, eklige Weise"
hätten die "Russen" sein "Mädchen angebaggert",
sagt er. Den Einsatz des Messers rechtfertigt er als
Notwehr. Mit zwei Schlägen ins Gesicht brachte ihn
Jakob M. angeblich zu Boden. Außerdem sei er, Franz
F., enorm betrunken gewesen.
'Kann ich mir nicht
vorstellen...'
Die skeptische Nachfrage des Vorsitzenden Richters
Miczajka, warum er erst jetzt als schuldminderte
Substanzen zwei Tabletten Ecstasy in Spiel bringt,
beantwortet Franz F. so: "Damit meine Freundin das nicht
erfährt und weiter zu mir hält."
Marten S., der in der besagten Tatnacht noch bis 6:00
weitertanzte und einer der Letzten auf der Tanzfläche
war, erklärt, sich an nichts mehr erinnern zu
können. "Wegen dem Alkohol auf jeden Fall", sagt er.
Und zu dem Tatvorwurf: "Kann ich mir nicht vorstellen.
Weiß ich nicht. Aber ich
hab's
nicht gemacht." Alles, was er über diesen Abend,
diese Nacht zu sagen weiß, ist: "Es war ein lustiger
Abend."
Nach insgesamt vier Terminen und
weiteren unsicheren Zeugenaussagen ging das Verfahren am
12. Juni 2008 zu Ende. Nicht einer der Besucher der
Diskothek DIX, noch in der Tatnacht anwesende Freunde der
Beteiligten hatten halbwegs sichere Aussagen über den
Hergang der Auseinandersetzung machen können. So
wurde bereits am dritten Tag der Hauptverhandlung das
Verfahren gegen Merten S. eingestellt.
Am Ende blieben als einzig gesicherter Beweis das
Geständnis des Angeklagten Franz F., auf das Opfer
Jakob M. eingestochen zu haben und eine Anzahl Indizien.
Darauf aufbauend lautete zuletzt das auf Grundlage des
Jugendstrafrechts verhängte Urteil gegen Franz F.: zwei
Jahre und sieben Monate Haft wegen versuchten
Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher
Körperverletzung. Der Haftbefehl
wurde aufgehoben, sodass sich Franz F. nun selbst der Haft
bei Termin stellen darf.
Mildernd wurden dem Angeklagten seine durch den
psychiatrischen Gutachter Dr. Werner Ascherl festgestellte
Reifeverzögerung angerechnet, eine durch Alkohol und
den (möglichen) Konsum von Ecstasy verursachte
erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit sowie die
Bereitschaft der Reue und die Zahlung einer erheblichen
Summe (4.000 €) an den Geschädigten, der noch
weitere 2.000 € in Raten folgen werden.
Die Kammer unter Vorsitz von Richter Miczajka zeigte sich
erschrocken über den offenbar nicht unter wenigen
Jugendlichen verbreiteten hohen Alkoholkonsum und den
Irrglauben, ein Messer sei ein probates Mittel der
Gefahrenabwehr. Ein populäres Abschreckungsurteil zu
fällen, hielt die Kammer aus rechtlichen und ethisch
moralischen Gründen für abwegig.
Dem Verurteilten gab Richter Miczajka mahnend mit auf den
Weg: "Sie haben es jetzt selbst in der Hand, den
Strafverlauf günstig zu beeinflussen."