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"Es fällt mir so schwer. Ich bin so müde ..."


von Barbara Keller

13. September 2005. AG Tiergarten. Abt. 237 - Schöffengericht
Anfang Dezember 2004 ist Brigitte R. (47) am Ende ihrer Kräfte. Die Bemühungen um Förderkostenübernahme für ihren schwerstbehinderten Sohnes Riccardo sind gescheitert. Und wieder soll Riccardo operiert werden. Seit neun Jahren kämpft die allein stehende Mutter um sein Leben. Versucht sie, ihm Mut zu machen, Sinn und Qualität in sein Leben zu bringen. Doch seit der mit seinem Motorrad verunglückte junge Mann aus dem Koma erwachte und seine hilflose Lage erkannte, will er nur noch Eines: sterben. Eigentlich hatte die gelernte Diplombetriebswirtin bereits alle Weihnachtsvorbereitungen getroffen. Doch dann gibt sie dem Wunsch ihres Jungen nach und mischt für sich und ihn einen tödlichen Medikamentencocktail.


Im Sommer 1995 ist für die allein erziehende, in Forst bei Cottbus lebende Mutter die Welt noch in Ordnung. Gerade hat ihr Sohn bei einem Notendurchschnitt von 1,8 das Abitur bestanden. Am Abend soll die Abiturfeier sein. Als Riccardo nachmittags mit dem neuen Motorrad unterwegs ist, geht er bei regennasser Fahrbahn bei 20 Kilometer die Stunde zu Boden. Kein schlimmer Unfall, keine bösen Verletzungen. Aber in der Erstversorgung gibt es offenbar Defizite bei der Sauerstoffversorgung seines Gehirns.

Aus heiterem Himmel

Als Riccardo aus dem Koma erwacht, ist er vollständig auf fremde Hilfe angewiesen. Er kann weder sprechen, noch seine Bewegung selbst koordinieren. Über eine Sonde nimmt er Flüssigkeit zu sich. Nach langem Training kann er klein geschnittene Nahrung zu sich nehmen. Brigitte R.: "Riccardo war in seinem Körper gefangen."

Nach einem Jahr ohne nennenswerte Fortschritte setzt Riccardos Rebellion ein. Er tobt in seinem Rollstuhl, brüllt. Einmal gelingt es ihm, sich auf den Bauch zu wälzen. Als Brigitte R. ihren Sohn findet, ist sein Kopf bereits blau angelaufen. Sie fragt ihn entsetzt: "Willst du, dass ich dir etwas antue?" Und er schließt für einen langen Augenblick die Augen. Das bedeutet 'Ja'. Unter Tränen antwortet die Mutter: "Ich kann dich nicht töten. Ich habe dich doch geboren!"

"Ich kann dich nicht töten!"

Neun Jahre lang kämpft Brigitte R. gegen den Suizidwunsch ihres Sohnes an. Sie zieht von Forst nach Cottbus und dann nach Berlin, um ihm maximale Förderung zuteil werden zu lassen. Während Riccardo im Pflegeheim des St. Elisabethstiftes (Pankow) wohnt, geht die in Rudow lebende Brigitte R. mit ihrem Sohn auf Heavy Metall Konzerte, fährt mit ihm raus in den Wald, um ihm Lebensqualität zu bieten.

Doch die Kraftreserven lassen nach. Brigitte R. wird depressiv, nimmt Medikamente. Und dann erkrankt sie selbst schwer. Als erneut eine komplizierte, schmerzhafte Operation ins Haus steht, vor der Riccardo sich fürchtet, hat die Mutter dem Wunsch des Sohnes nach Erlösung nichts mehr entgegenzusetzen.

Durch Zwei geteilt ...

Am 11. Dezember 2004 ist Riccardo besonders unruhig. Am späten Nachmittag fragt Brigitte R. resigniert ihren Sohn, ob er sterben möchte. Er bejaht, indem er die ihm einzig verbliebene Form der Kommunikation wählt: Er schließt ruhig die Augen. Das war der 'point of no return', wie Richterin Monika Pelcz später sagen wird. Brigitte R.: "Ich habe alles, was ich in meinem Medikamentenschrank fand, durch Zwei geteilt."

Sohn und Mutter essen noch zusammen Abendbrot. Dann bringt Brigitte R. ihren Sohn zu Bett. Den zerkleinerten Medikamentenanteil Riccardos gibt sie, nachdem sie zwei weitere Male seinen Entschluss hinterfragt, in seine Magensonde. Sie bleibt an seinem Bett sitzen, bis er nicht mehr atmet. Vor Gericht sagt die kleine, zurückhaltende Frau später unter Tränen: Das war das Schwerste, das mir in meinem Leben abverlangt wurde."

"Wünschen eine Seebestattung in der Ostsee ..."

Dann holt Brigitte R. ein Messer aus der Küche. Sie will sicher gehen. Doch die Schmerzen beim Schneiden sind zu groß. So begnügt sie sich mit der Einnahme der Medikamente. Als Feuerwehrleute drei Tage später auf eine Vermisstenanzeige des Stiftes die Wohnung von Brigitte R. aufbrechen, finden sie einen toten Riccardo, dessen in Lebensgefahr schwebende Mutter und ein Testament auf dem Tisch, das beginnt: "Es fällt mir so schwer. Ich bin so müde ..."

Brigitte R. wünscht für sich und ihren Jungen eine Seebestattung und keine lebensverlängernden Maßnahmen im Falle sie lebend angetroffen würde. - Es kommt jedoch anders. Brigitte R. überlebt. Am 13. Dezember 2004 wacht sie auf der Intensivstation des Benjamin Franklin Krankenhauses auf. Brigitte R.: "Es war schrecklich."

"Was kann man der Angeklagten antun, womit noch bestrafen?"

Kurz darauf wird sie auf die Intensivstation des Haftkrankenhauses verlegt. Ihre Handlung ist nach deutschem Recht strafbar. Für aktive Sterbehilfe, Töten auf Verlangen (§ 216 StGB), sieht das Strafgesetzbuch eine Haftstrafe zwischen sechs Monaten und fünf Jahren vor.

Am Tag des Verfahrens gegen Brigitte R. trifft der Prozesszuschauer nur auf betroffene Sympathisanten. Und nachdem Brigitte R. den 'Tatvorwurf' eingestanden und Gutachter Dr. Werner Platz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Vivantes Humboldt-Klinikum, der Angeklagten eine verminderte Schuldfähigkeit einräumt, kommt es nach einer gerafften Beweisaufnahme zu dem vorhersehbaren Urteil: "schuldig".

Doch dann sieht das Gericht mit Verweis auf den § 60 der StGB von der Verhängung einer Strafe ab. Denn, so Richterin Monika Pelcz: "Was kann man der Angeklagten antun, womit noch bestrafen?" Eine Bestrafung entbehre jeden Sinnes. Damit kommt das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft, vertreten durch Staatsanwalt Reinhard Albers, entgegen, der sichtlich bewegt erklärte: "Für Frau R. gab es keine ernsthafte Handlungsalternative."


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Lesen Sie auch:
Ist dieses Urteil ein Signal zur Legalisierung der Sterbehilfe?, fragt die BLZ in einem Beitrag vom 17. September 2005 von Sabine Deckwerth..

NJW schreibt:
"Es gibt noch qualifizierte Gerichtsreporter..."
NJW-aktuell - web.report H. 38/2010, S.3




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Brigitte R. (47, re.) mischte für sich und ihren schwerstbehinder-
ten Sohn Riccardo (29) einen tödlichen Medikamenten-
cocktail: "Das war das Schwerste, das mir in meinem Leben abverlangt wurde."


Richterin Monika Pelcz: "An dem Todesverlangen von Riccardo gibt es keinen Zweifel."


Staatsanwalt Reinhard Albers: "Ich habe schon viele Schwurgerichts-
verfahren erlebt. Aber das ist die schlimmste Tragödie in meiner Laufbahn."



Auch Rechtanwalt Andreas Müller bat um Straffreiheit für seine Mandantin.


Das Publikum sympathisierte durchweg mit der Angeklagten. Wie dieser Herr, der vor laufender Kamera erklärte: "Aktive Sterbehilfe sollte strafrechtlich nicht verfolgt werden."

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