"Die gerichtliche Wahrheit ist ein Konstrukt", zitierte
Oberstaatsanwalt Thomas Schell in seinem Plädoyer
am 12. April 2013 aus der Osterkolumne des Journalisten
Christian Bommarius (Frankfurter Rundschau, 30.
März 2013). Mit den Worten "Niemand hat
die Wahrheit gepachtet" schlug der Ankläger eine
rhetorische Brücke zu einem eigenen, freilich,
völlig beweisfreien 'Konstrukt'. Als sei der
Gerichtssaal ein Meinungssymposium, als gäbe es
keine Unschuldsvermutung, ein Grundprinzip des
rechtsstaatlichen Strafverfahrens.
Eigentlich hatte man von Seiten der Staatsanwaltschaft
heute den Antrag auf einen Freispruch des Angeklagten
Veysel K. (61) erwartet. Grund dazu gab es. Der
Rechtsmediziner Prof. Dr. Bernd Brinkmann hatte am 21.
März 2013 einen gewaltsamen Erstickungstod
ausgeräumt. "Die Anwendung eines Fremdgegenstandes
halte ich für sehr unwahrscheinlich", erklärte
der gynäkologische Sachverständige Prof. Dr.
med. Rüdiger Rauskolb in Hinblick auf eine
Verletzung der Toten. Und der psychiatrische Gutachter
Dr. Jürgen Rimpel schloss eine Affekttat aus, die
im Zusammenhang mit der vom Kläger behaupteten,
'beleidigten Männlichkeit' hätte stehen
können.
Nichtsdestotrotz entwickelte Oberstaatsanwalt Schell
heute sein durch nichts belegtes 'Konstrukt', nach dem
der Angeklagte sich durch eine Bemerkung des
mutmaßlichen Opfers beleidigt gefühlt und es
'bestraft' haben könnte. Durch Ersticken und
die brutale Penetration mit einem Gegenstand.
"Die Normalreaktion eines Bürgers ist, Hilfe zu
rufen", warf Oberstaatsanwalt Schell dem Angeklagten
vor. Sein Nachtatverhalten, sein Vertuschungsversuch,
sei 'Täterverhalten'. Als ob jeder verheiratete
'Normalbürger' aus Entenhausen bei einem
Seitensprung mit einer verheirateten Frau in einem Dorf
(sagen wir) in Anatolien in einer vergleichbaren
Situation freien Herzens, pflichtschuldig die
örtlichen Behörden riefe.
Oberstaatsanwalt Schell beantragte wegen Vergewaltigung
und Körperverletzung mit Todesfolge eine
Freiheitsstrafe von neun Jahren. Nur am Rande
erwähnte der Anklagevertreter den fatalen Umstand,
dass Rechtsmediziner Dr. Christian König (damals
Rechtsmedizin Potsdam) die exakte Bestimmung der
Todesursache verhindert hatte, indem er einen
Standardtest, den Test auf eine Embolie, damit einen
möglichen Unfall unterließ.
Rechtsanwalt Jens Mader hielt es kurz. Er beantragte
Freispruch für seinen Mandanten. Der Verteidiger
warf Rechtsmediziner Dr. König "unprofessionelles
Handeln" und Oberstaatsanwalt Schell vor, die Augen vor
den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu
verschließen. Während des gesamten Verfahrens
konnte Rechtsanwalt Mader auf die Unterstützung des
als Berater fungierenden Privatermittlers
Mario Arndt
(Berlin) zurückgreifen, der als Erster auf
einen möglichen Unglücksfall durch Embolie
hinwies und den Experten für Erstickungstode Prof.
Dr. Bernd Brinkmann ins Spiel brachte.
Das Gericht sprach den Angeklagten Veysel K.
schließlich frei. "Wir können nicht
feststellen, dass Herr K. den Tod von Marlies K. in
strafrechtlich relevanter Weise verursachte",
erklärte der vorsitzende Richter Dr. Stefan
Fiedler. Die Kosten des Verfahrens, die
Haftentschädigung wird nun die Landeskasse tragen.
Unterm Strich hinterließ dieses Verfahren
Kollateralschäden auf der ganzen Linie.
Ungewissheit, Empörung bei den Angehörigen der
Toten über den Freispruch von Veysel K., den sie -
d' accord gehend mit dem Anklagevertreter - noch immer
für schuldig halten. Der jetzt Freigesprochene hat
indessen alles verloren, ist mit Verfahrenskosten hoch
verschuldet und saß anderthalb Jahre zu Unrecht in
Haft. Veysel K., 2009 noch selbständiger
Geschäftsmann, kehrt als armer Mann in sein Dorf in
Ostanatolien zurück.
Wie sicher man sich in Brandenburg und den deutschen
Landen fühlen darf, scheint ernstlich in Frage
gestellt, wenn unterlassene oder schlampige
Untersuchungen der Ermittlungsbehörden
unbescholtene Bürger lebenslang hinter Gitter
können oder Straftäter vor Verurteilung
bewahren. "Brandenburg hat zwei Drittel seines Personals
abgebaut. Da werden falsche Prioritäten gesetzt",
kritisierte der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Olaf
Wernicke in seinem PLädoyer.
Ein kurioser
Fall aus MeckPom mit weniger weitreichenden Folgen
ähnlichen Couleurs.
Fotos:
(von oben nach unten)
Bild 1: Veysel K. nach dem
Freispruch. Er fühlt sich trotzdem schuldig am Tod
von Marlies K. Der zurückhaltende, bislang
unbescholtene Mann jubelt nicht, als das Gericht das
Urteil verkündet. Später seufzt er: "Vier
Jahre, das war schwer!"
Bild 2: RA Jens Mader
(li.)/Privatermittler Mario Arndt (re.)